Gedicht zum Thema: Ballade, Moritat

Der Sänger

»Was hör' ich draußen vor dem Tor,
Was auf der Brücke schallen?
Laßt den Gesang zu unserm Ohr
Im Saale widerhallen!«
Der König sprach's, der Page lief,
Der Knabe kam, der König rief:
»Bring' ihn herein, den Alten.«

»Gegrüßet seid, ihr hohen Herrn,
Gegrüßt ihr, schöne Damen!
Welch reicher Himmel! Stern bei Stern!
Wer kennet ihre Namen?
Im Saal voll Pracht und Herrlichkeit
Schließt, Augen, euch, hier ist nicht Zeit,
Sich staunend zu ergötzen.«

Der Sänger drückt' die Augen ein
Und schlug die vollen Töne;
Der Ritter schaute mutig drein,
Und in den Schoß die Schöne.
Der König, dem das Lied gefiel,
Ließ ihm zum Lohne für sein Spiel
Eine goldne Kette holen.

»Die goldne Kette gib mir nicht,
Die Kette gib den Rittern,
Vor deren kühnem Angesicht
Der Feinde Lanzen splittern.
Gib sie dem Kanzler, den du hast,
Und laß ihn noch die goldne Last
Zu andern Lasten tragen.

Ich singe, wie der Vogel singt,
Der in den Zweigen wohnet.
Das Lied, das aus der Kehle dringt,
Ist Lohn, der reichlich lohnet;
Doch darf ich bitten, bitt' ich eins,
Laß einen Trunk des besten Weins
In reinem Glase bringen.«

Er setzt' es an, er trank es aus:
»O Trank der süßen Labe!
O! dreimal hochbeglücktes Haus,
Wo das ist kleine Gabe!
Ergeht's euch wohl, so denkt an mich,
Und danket Gott so warm, als ich
Für diesen Trunk euch danke.«

Johann Wolfgang von Goethe

(1749 - 1832), gilt als einer der bedeutendsten Repräsentanten deutschsprachiger Dichtung

Quelle: Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre, 1795/6. 2. Buch, 11. Kapitel