Gedicht zum Thema: Brief
Letzter Brief
O Brief, in lauter Nie geschrieben!
Erwartendes Gesicht, dir sag ichs nicht.
Die Stunde Ewigkeit bin ich geblieben –
Schon hält Verfallen über uns Gericht.
An allen Rändern tagt schon Anderssein,
So silbern neu, schaudernd zum ersten Male.
Wie wirft mich Tagwind aus verlebtem Tale
In jeden Anfang wolkenleicht hinein!
Vergeh! Du bleibst. In meinen Augen werden
Azure deiner seligen Schrecken sein.
Zu neuem Schicksal leihst du die Gebärden.
Du bist die Schwermut in verliebtem Wein,
Du das Verwandte unbekannter Erden …
O, jeder Abschied wird der unsre sein.
(1889 - 1945), österr. Lyriker und Schriftsteller, gründete 1938 zusammen mit anderen namhaften Dichtern die „Liga für das geistige Österreich“; Verfolgung durch die Nationalsozialisten, starb im KZ Dachau an Fleckfieber
Quelle: Rheinhardt, Die unendliche Reihe. Gedichte und Aufrufe, 1920