1 Zitat und 41 Gedichte von Ernst Stadler.
Form ist Wollust
Form und Riegel mußten erst zerspringen,
Welt durch aufgeschlossne Röhren dringen:
Form ist Wollust, Friede, himmlisches Genügen,
Doch mich reißt es, Ackerschollen umzupflügen.
Form will mich verschnüren und verengen,
Doch ich will mein Sein in alle Weiten drängen -
Form ist klare Härte ohn' Erbarmen,
Doch mich treibt es zu den Dumpfen, zu den Armen,
Und in grenzenlosem Michverschenken
Will mich Leben mit Erfüllung tränken.
Ernst Stadler (1883 - 1914 (gefallen)), Ernst Maria Richard Stadler, deutscher Schriftsteller, Wegbereiter expressionistischer Lyrik und Übersetzer u.a. französischer Literatur
Quelle: Stadler, E., Gedichte. Der Aufbruch, Erstdruck 1914. Die Flucht
Anrede
Ich bin nur Flamme, Durst und Schrei und Brand.
Durch meiner Seele enge Mulden schießt die Zeit
Wie dunkles Wasser, heftig, rasch und unerkannt.
Auf meinem Leibe brennt das Mal: Vergänglichkeit.
Du aber bist der Spiegel, über dessen Rund
Die großen Bäche alles Lebens geh'n,
Und hinter dessen quellend gold'nem Grund
Die toten Dinge schimmernd aufersteh'n.
Mein Bestes glüht und lischt – ein irrer Stern,
Der in den Abgrund blauer Sommernächte fällt –
Doch deiner Tage Bild ist hoch und fern,
Ewiges Zeichen, schützend um dein Schicksal hergestellt.
Ernst Stadler (1883 - 1914 (gefallen)), Ernst Maria Richard Stadler, deutscher Schriftsteller, Wegbereiter expressionistischer Lyrik und Übersetzer u.a. französischer Literatur
Quelle: Stadler, E., Gedichte. Der Aufbruch, Erstdruck 1914. Die Spiegel
Schwerer Abend
Die Tore aller Himmel stehen hoch dem Dunkel offen,
Das lautlos einströmt, wie in bodenlosen Trichter
Land niederreißend. Schatten treten dichter
Aus lockren Poren nachtgefüllter Schollen.
Die Pappeln, die noch kaum von Sonne troffen,
Sind stumpf wie schwarze Kreuzesstämme übers Land geschlagen.
Die Acker wachsen grau und drohend - Ebenen trüber Schlacke.
Nacht wirbelt aus den Wolkengruben, über die die Stöße rollen
Schon kühler Winde, und im dämmrigen Gezacke
Hellgrüner Weidenbüschel, drin es rastend sich und röchelnd eingeschlagen,
Verglast das letzte Licht.
Ernst Stadler (1883 - 1914 (gefallen)), Ernst Maria Richard Stadler, deutscher Schriftsteller, Wegbereiter expressionistischer Lyrik und Übersetzer u.a. französischer Literatur
Quelle: Stadler, E., Gedichte. Der Aufbruch, Erstdruck 1914. Die Rast
Fahrt über die Kölner Rheinbrücke bei Nacht
Der Schnellzug tastet sich und stößt die Dunkelheit entlang.
Kein Stern will vor. Die ganze Welt ist nur ein enger, nachtumschienter Minengang,
Darein zuweilen Förderstellen blauen Lichtes jähe Horizonte reißen: Feuerkreis
Von Kugellampen, Dächern, Schloten, dampfend, strömend .. nur sekundenweis ...
Und wieder alles schwarz. Als führen wir ins Eingeweid der Nacht zur Schicht.
Nun taumeln Lichter her ... verirrt, trostlos vereinsamt ... mehr ... und sammeln sich ... und werden dicht.
Gerippe grauer Häuserfronten liegen bloß, im Zwielicht bleichend, tot - etwas muß kommen ... o, ich fühl es schwer
Im Hirn. Eine Beklemmung singt im Blut. Dann dröhnt der Boden plötzlich wie ein Meer:
Wir fliegen, aufgehoben, königlich durch nachtentrissne Luft, hoch übern Strom. O Biegung der Millionen Lichter, stumme Wacht,
Vor deren blitzender Parade schwer die Wasser abwärts rollen. Endloses Spalier, zum Gruß gestellt bei Nacht!
Wie Fackeln stürmend! Freudiges! Salut von Schiffen über blauer See! Bestirntes Fest!
Wimmelnd, mit hellen Augen hingedrängt! Bis wo die Stadt mit letzten Häusern ihren Gast entläßt.
Und dann die langen Einsamkeiten. Nackte Ufer. Stille. Nacht. Besinnung. Einkehr. Kommunion. Und Glut und Drang.
Ernst Stadler (1883 - 1914 (gefallen)), Ernst Maria Richard Stadler, deutscher Schriftsteller, Wegbereiter expressionistischer Lyrik und Übersetzer u.a. französischer Literatur
Quelle: Stadler, E., Gedichte. Der Aufbruch, Erstdruck 1914. Die Spiegel
Betörung
Nun bist du, Seele, wieder deinem Traum
Und deiner Sehnsucht selig hingegeben.
In holdem Feuer glühend fühlst du kaum,
Daß Schatten alle Bilder sind, die um dich leben.
Denn nächtelang war deine Kammer leer.
Nun grüßen dich, wie über Nacht die Zeichen
Des jungen Frühlings durch die Fenster her,
Die neuen Schauer, die durch deine Seele streichen.
Und weißt doch: niemals wird Erfüllung sein
Den Schwachen, die ihr Blut dem Traum verpfänden,
Und höhnend schlägt das Schicksal Krug und Wein
Den ewig Dürstenden aus hochgehobnen Händen.
Ernst Stadler (1883 - 1914 (gefallen)), Ernst Maria Richard Stadler, deutscher Schriftsteller, Wegbereiter expressionistischer Lyrik und Übersetzer u.a. französischer Literatur
Quelle: Stadler, E., Gedichte. Der Aufbruch, Erstdruck 1914. Die Flucht
Fluß im Abend
Der Abend
läuft den lauen Fluß hinunter,
Gewittersonne übersprengt
die Ufersenkung bunter.
Es hat geregnet.
Alle Blätter dampfen Feuchte.
Die Weidenwildnis streckt mit hellen Tümpeln
sich ins witternde Geleuchte.
Weiße Nebel
sich ins Abendglänzen schwingen.
Unterm seichten Fließen dumpf und schrill
die mitgezognen Kiesel klingen.
Die Pappeln stehn im Licht, traumgroße Kerzen
dick mit gelbem Honigseim beträuft –
Mir ist, als ob mein tiefstes Glück durch grüne Ufer
in den brennenden Gewitterabend läuft.
Ernst Stadler (1883 - 1914 (gefallen)), Ernst Maria Richard Stadler, deutscher Schriftsteller, Wegbereiter expressionistischer Lyrik und Übersetzer u.a. französischer Literatur
Quelle: Stadler, E., Gedichte. Der Aufbruch, Erstdruck 1914. Die Rast
Frühe Dämmerung
Die letzten müden Liebesworte irren
Wie Abendfalter, die mit schweren Flügen
In Dämmerung und Träumen sich verwirren.
Und trunken niedersinkend ist's, als trügen
Ein zartes Leuchten sie um Deine Wangen
Und Sänftigung zu Deinen Atemzügen.
Ich seh' das Glück an Deinen Lippen hangen
Wie eine Blüte, warmer Nacht entsprungen –
Indes ich dumpf, in namenlosem Bangen,
Dem Gang der Stunden lausche, die verschlungen
Zu dunklen Ketten in das Leere gleiten,
Vom harten Glockenschlag der Nacht umklungen.
Ich hör im Takt ihr endlos gleiches Schreiten
Auf heißem Lager sinnlos aufgerichtet,
Hinhorchend in die nachtbeschwerten Weiten,
Die schon der erste Schein der Frühe lichtet.
Ernst Stadler (1883 - 1914 (gefallen)), Ernst Maria Richard Stadler, deutscher Schriftsteller, Wegbereiter expressionistischer Lyrik und Übersetzer u.a. französischer Literatur
Quelle: Stadler, E., Gedichte. Verstreute Gedichte aus den Jahren 1910 bis 1914
Glück
Nun sind vor meines Glückes Stimme
alle Sehnsuchtsvögel weggeflogen.
Ich schaue still den Wolken zu,
die über meinem Fenster in die Bläue jagen –
Sie locken nicht mehr,
mich zu fernen Küsten fortzutragen,
Wie einst, da Sterne, Wind und Sonne
wehrlos mich ins Weite zogen.
In deine Liebe bin ich
wie in einen Mantel eingeschlagen.
Ich fühle deines Herzens Schlag,
der über meinem Herzen zuckt.
Ich steige selig
in die Kammer meines Glückes nieder,
Ganz tief in mir, so wie ein Vogel,
der ins flaumige Gefieder
Zu sommerdunklem Traum
das Köpfchen niederduckt.
Ernst Stadler (1883 - 1914 (gefallen)), Ernst Maria Richard Stadler, deutscher Schriftsteller, Wegbereiter expressionistischer Lyrik und Übersetzer u.a. französischer Literatur
Quelle: Stadler, E., Gedichte. Der Aufbruch, Erstdruck 1914. Stationen
Der Teich
Der stille Teich von dunklem Schilf umflüstert
und alten überwachsnen Stämmen die seltsam rauschen
erglüht im sinkenden Abend. Leise flirrt
sein tiefer brauner Kelch im Nachtwind und umspült
der schlanken Gondel goldgezierten Bug
die schwer mit Tang und trüber Flut gefüllt
auf weichen Ufermoosen schaukelt wo
der schmale Kiesweg grün umwuchert
in fernes Dunkel taucht. Verschlafen gleiten
im Wellenrieseln weiße Wasserrosen
an dünnen schwanken Stengeln hin und strahlen
in blassem Feuer groß aus braunen Schatten die
von breiten Buchenkronen sinken und
der satte Abendhimmel überströmt
von Purpurwolken flimmert durchs Gewirr
der Äste schwer und brennend wie ein Schacht
mit funkelnden Juwelen übersät.
Ernst Stadler (1883 - 1914 (gefallen)), Ernst Maria Richard Stadler, deutscher Schriftsteller, Wegbereiter expressionistischer Lyrik und Übersetzer u.a. französischer Literatur
Quelle: Stadler, E., Gedichte. Praeludien, Erstdruck 1905. Bilder und Gestalten
Worte
Man hatte uns Worte vorgesprochen,
die von nackter Schönheit und Ahnung
und zitterndem Verlangen übergingen.
Wir nahmen sie, behutsam wie fremdländische Blumen,
die wir in unsrer Knabenheimlichkeit aufhingen.
Sie versprachen Sturm und Abenteuer,
Überschwang und Gefahren und todgeweihte Schwüre –
Tag um Tag standen wir und warteten,
daß ihr Abenteuer uns entführe.
Aber Wochen liefen kahl und spurlos,
und nichts wollte sich melden, unsre Leere fortzutragen.
Und langsam begannen die bunten Worte zu entblättern.
Wir lernten sie ohne Herzklopfen sagen.
Und die noch farbig waren, hatten sich von Alltag
und allem Erdwohnen geschieden:
Sie lebten irgendwo verzaubert auf paradiesischen Inseln
in einem märchenblauen Frieden.
Wir wußten:
sie waren unerreichbar wie die weißen Wolken,
die sich über unserm Knabenhimmel vereinten,
Aber an manchen Abenden geschah es,
daß wir heimlich und sehnsüchtig
ihrer verhallenden Musik nachweinten.
Ernst Stadler (1883 - 1914 (gefallen)), Ernst Maria Richard Stadler, deutscher Schriftsteller, Wegbereiter expressionistischer Lyrik und Übersetzer u.a. französischer Literatur
Quelle: Stadler, E., Gedichte. Der Aufbruch, Erstdruck 1914. Die Flucht