14548 Gedichte.
Nachsicht
Denk oft zurück ins eigne Leben;
verlang von andern nicht zu viel!
Du weißt, es führte dich dein Streben
auch nur so nach und nach ans Ziel.
Du hast den Schwachen gern zu schonen;
du wurdest doch wohl auch geschont.
Die Liebe wird bei ihm sich lohnen,
wie sie sich einst bei dir gelohnt.
Und bist du auch nicht ganz zufrieden
mit dem, was er für dich gemacht,
wir Menschen sind ja so verschieden:
Er hat es anders sich gedacht.
Du solltest dich darüber freuen,
daß er dir guten Willen zeigt.
Auch du hast manches zu bereuen,
auch dir fiel wohl nicht alles leicht.
Drum laß den Zorn nicht überfließen;
üb' immer Nachsicht, hab' Geduld;
denn wenn dich etwas will verdrießen,
bist du vielleicht auch selbst mit schuld.
Karl May (1842 - 1912), eigentlich Carl Friedrich May, Pseudonym Karl Hohenthal; dt. Jugendschriftsteller
märz
keimende strahlen
malen
auf
unsere
düsteren morgen
ein
zärtlich streichelndes licht
in eisgrauen frost
eingemauerte kälte
zerfällt zu
fließendem sonnenstaub
im himmel
beginnt
das konzert
des lebens
unsere
erstarrten körper
beginnen
zu schmelzen
wir atmen
frühling
ist
unterwegs
© Cosima Bellersen Quirini (*1960), Kulturhistorikerin und Autorin
Schattentanz der Nacht.
Im Traum erblüht die Seele
zur Vollkommenheit.
© Helga Schäferling (*1957), deutsche Sozialpädagogin
Wenn Sterne flüstern
ertönt aus weiten Himmeln
lieblicher Gesang.
© Helga Schäferling (*1957), deutsche Sozialpädagogin
Vergiß mich, du besinnungsloser Tor,
Zerstör den Frieden nicht!
Nur deine Liebe brachte mich hervor,
Lieb doch kein Truggesicht!
Kleinmüt'ger Träumer, der du bangst und stöhnst
In Seelenqual, glaube mir;
Je näher du dem luftigen Traum dich wähnst,
Je ferner bin ich dir.
So schreit am See ein Jüngling auf, betört
Von Lunas Silberlicht;
Er stürtzt hinab – von seiner Hand zerstört,
Erlosch ihr Angesicht.
Kind, schenke Träume kein Gehör hinfort,
Trockne die Tränen dir!
Hoch droben schwimmt und leuchtet Luna, dort
Ist auch ihr Reich, nicht hier.
Afanassi Afanassjewitsch Fet (1820 - 1892), eigentlich Afanassi Afanassjewitsch Schenschin, russischer Dichter und Philosoph; übersetzte Goethe (»Faust I«), Schopenhauer (»Die Welt als Wille und Vorstellung«) und römische Klassiker ins Russische
Frühlingssonnenstrahlen
schmelzen
den Schnee
auf deiner Seele
malen
Lichtfinger
in deine Welt
tanzen
mit dir
federleicht in den Tag
© Engelbert Schinkel (*1959), einfühlsamer Seelenfärber
Ein jedes Blatt im Buch der Weltgeschichte
Macht euer heillos Lehrsystem zunichte,
Ihr Frevler, deren Glaubenskatechismus
Die Welt versenkt in Nacht und Mystizismus!
Zum wahren Heile führt die Menschheit nur
Der ew'ge Katechismus der Natur!
Fridolin Krasser (1863 - 1922), österreichischer Paläobotaniker
Feldfrüchte
Sinnend geh ich durch den Garten,
still gedeiht er hinterm Haus;
Suppenkräuter, hundert Arten,
Bauernblumen, bunter Strauß.
Petersilie und Tomaten,
eine Bohnengalerie,
ganz besonders ist geraten
der beliebte Sellerie.
Ja, und hier –? Ein kleines Wieschen?
Da wächst in der Erde leis
das bescheidene Radieschen:
außen, rot und innen weiß.
Sinnend geh ich durch den Garten
unsrer deutschen Politik;
Suppenkohl in allen Arten
im Kompost der Republik.
Bonzen, Brillen, Gehberockte,
Parlamentsroutinendreh . . .
Ja, und hier –? Die ganz verbockte
liebe gute SPD.
Hermann Müller, Hilferlieschen
blühn so harmlos, doof und leis
wie bescheidene Radieschen:
außen rot und innen weiß.
Kurt Tucholsky (1890 - 1935 (Freitod)), Pseudonyme: Kaspar Hauser, Peter Panter, Theobald Tiger, Ignaz Wrobel; dt. Schriftsteller, Journalist, Literatur- und Theaterkritiker der Zeitschrift "Die Schaubühne" (später umbenannt in "Die Weltbühne"), zählt zu den bedeutendsten Publizisten der Weimarer Republik
Quelle: Tucholsky, Werke 1907-1935. In: Die Weltbühne, 21.09.1926, Nr. 38 (Theobald Tiger), wieder in: Mit 5 PS, 1928
Heimat
Und auch im alten Elternhause
und noch am Abend keine Ruh?
Sehnsüchtig hör ich dem Gebrause
der hohen Pappeln draußen zu.
Und höre sacht die Türe klinken,
Mutter tritt mit der Lampe ein;
und alle Sehnsüchte versinken,
o Mutter, in dein Licht hinein.
Richard Dehmel (1863 - 1920), Richard Fedor Leopold Dehmel, dt. Dichter, Lyriker, Dramatiker und Kinderbuchautor