14598 Gedichte.
Neujahr
Des Jahres letzte Stunde
Ertönt mit ernstem Schlag:
Trinkt, Brüder, in die Runde,
Und wünscht ihm Segen nach.
Zu jenen grauen Jahren
Entfliegt es, welche waren;
Es brachte Freud und Kummer viel,
Und führt' uns näher an das Ziel.
CHOR
Ja, Freud und Kummer bracht' es viel,
und führt' uns näher an das Ziel.
In stetem Wechsel kreiset
Die flügelschnelle Zeit:
Sie blühet, altert, greiset,
Und wird Vergessenheit;
Kaum stammeln dunkle Schriften1)
Auf ihren morschen Grüften.
Und Schönheit, Reichtum, Ehr und Macht
Sinkt mit der Zeit in öde Nacht.
CHOR
Und Schönheit, Reichtum, Ehr und Macht
Sinkt mit der Zeit in öde Nacht.
Sind wir noch alle lebend,
Wer heute vor dem Jahr,
In Lebensfülle strebend,
Mit Freunden fröhlich war?
Ach mancher ist geschieden,
Und liegt und schläft in Frieden!
Klingt an, und wünschet Ruh hinab
In unsrer Freunde stilles Grab.
CHOR
Klingt an, und wünschet Ruh hinab
In unsrer Freunde stilles Grab.
Wer weiß, wie mancher modert
Ums Jahr, versenkt ins Grab!
Unangemeldet fodert
Der Tod die Menschen ab.
Trotz lauem Frühlingswetter
Wehn oft verwelkte Blätter.
Wer von uns nachbleibt, wünscht dem Freund
Im stillen Grabe Ruh, und weint.
CHOR
Wer nachbleibt, wünscht dem lieben Freund
Im stillen Grabe Ruh, und weint.
Der gute Mann nur schließet
Die Augen ruhig zu;
Mit frohem Traum versüßet
Ihm Gott des Grabes Ruh.
Er schlummert kurzen Schlummer
Nach dieses Lebens Kummer;
Dann weckt ihn Gott, von Glanz erhellt,
Zur Wonne seiner bessern Welt.
Chor
Dann weckt uns Gott, von Glanz erhellt,
Zur Wonne seiner bessern Welt.
Auf, Brüder, frohes Mutes,
Auch wenn uns Trennung droht!
Wer gut ist, findet Gutes
Im Leben und im Tod!
Dort sammlen wir uns wieder,
Und singen Wonnelieder!
Klingt an, und: Gut sein immerdar!
Sei unser Wunsch zum neuen Jahr!
CHOR
Gut sein, ja gut sein immerdar!
Zum lieben frohen neuen Jahr!
Johann Heinrich Voß (1751 - 1826), deutscher Versdichter und erster Übersetzer der »Odyssee« und der »Ilias«
Im Walde
Aber in Hütten wohnet der Mensch, und hüllet
sich ein ins verschämte Gewand, denn inniger
ist achtsamer auch und daß er bewahre den Geist,
wie die Priesterin die himmlische Flamme,
dies ist sein Verstand.
Und darum ist die Willkür ihm und höhere Macht
zu fehlen und zu vollbringen dem Götterähnlichen,
der Güter gefährlichstes, die Sprache dem Menschen
gegeben, damit er schaffend, zerstörend, und
untergehend, und wiederkehrend zur ewiglebenden,
zur Meisterin und Mutter, damit er zeuge, was
er sei geerbet zu haben, gelernt von ihr, ihr
Göttlichstes, die allerhaltende Liebe.
Friedrich Hölderlin (1770 - 1843), Johann Christian Friedrich Hölderlin, deutscher evangelischer Theologe, Dramatiker und Lyriker (begann ab 1841 seine Gedichte mit ›Scardanelli‹ zu unterzeichnen)
Quelle: Hölderlin, F., Gedichte. Nach der Großen Stuttgarter Ausgabe, Zuordnung und Genese jedoch sehr umstritten
»Wie weit soll das noch gehn!
Du fällst gar oft ins Abstruse,
Wir können dich nicht verstehn.«
Deshalb tu ich Buße;
Das gehört zu den Sünden.
Seht mich an als Propheten!
Viel Denken, mehr Empfinden
Und wenig Reden.
Johann Wolfgang von Goethe (1749 - 1832), gilt als einer der bedeutendsten Repräsentanten deutschsprachiger Dichtung
Quelle: Goethe, J. W., Gedichte. Ausgabe letzter Hand, 1827. Zahme Xenien 2
Willst lustig leben,
Geh mit zwei Säcken,
Einen zum Geben,
Einen, um einzustecken.
Da gleichst du Prinzen,
Plünderst und beglückst Provinzen.
Johann Wolfgang von Goethe (1749 - 1832), gilt als einer der bedeutendsten Repräsentanten deutschsprachiger Dichtung
Quelle: Goethe, J. W., Gedichte. Ausgabe letzter Hand, 1827. Sprichwörtlich
Wenn du auf dem Guten ruhst,
Nimmer werd ich's tadeln,
Wenn du gar das Gute tust.
Sieh, das soll dich adeln!
Hast du aber deinen Zaun
Um dein Gut gezogen,
Leb ich frei und lebe traun
Keineswegs betrogen.
Denn die Menschen, sie sind gut.
Würden besser bleiben,
Sollte nicht, wie's einer tut,
Auch der andre treiben.
Auf dem Weg, da ist's ein Wort.
Niemand wird's verdammen:
Wollen wir an einen Ort,
Nun, wir gehn zusammen.
Vieles wird sich da und hie
Uns entgegenstellen.
In der Liebe mag man nie
Helfer und Gesellen;
Geld und Ehre hätte man
Gern allein zur Spende;
Und der Wein, der treue Mann.
Der entzweit am Ende.
Hat doch über solches Zeug
Hafis auch gesprochen,
Über manchen dummen Streich
Sich den Kopf zerbrochen,
Und ich seh nicht, was es frommt,
Aus der Welt zu laufen,
Magst du, wenn's zum Schlimmsten kommt,
Auch einmal dich raufen.
Johann Wolfgang von Goethe (1749 - 1832), gilt als einer der bedeutendsten Repräsentanten deutschsprachiger Dichtung
Quelle: Goethe, J. W., Gedichte. West-östlicher Divan, entst. 1814-1819, Erstdruck Cotta, Stuttgart u. Tübingen 1819. Buch des Unmuts
Erinnerung
Wenn dir die Kälte
den Winter
lang werden läßt
dann lehne dich
ganz entspannt
an die Heizung
und reise in Gedanken
in die Vergangenheit
nimm dir aus der Erinnerung
ein wenig von der Freude
die du im letzten Frühling
beim Erwachen der Natur
empfunden hast
© Engelbert Schinkel (*1959), einfühlsamer Seelenfärber
Ach, wie nichtig, ach, wie flüchtig
ist des Menschen Ehre!
Über den, dem man hat müssen
heut' die Hände höflich küssen,
geht man morgen gar mit Füßen.
Michael Franck (1609 - 1667), deutscher Kirchenliederdichter und Komponist
Quelle: Franck, Geistliches Harpffenspiel, 1657
Abendstimmung
Glühendrot der Sonnenball
will ins Meer versinken,
und die Fluren überall
Tau und Frieden trinken;
leise wiegt die Knospe sich
an dem braunen Zweige…
Traumhaft kommt sie über mich,
Sehnsucht tief und wunderlich,
geht der Tag zur Neige.
Clara Müller-Jahnke (1860 - 1905), deutsche Dichterin, Journalistin und Frauenrechtlerin
Quelle: Müller-Jahnke, Gedichte, Gesamtausgabe, hg. von Oskar Jahnke 1910
Der Jüngling am Bache
An der Quelle saß der Knabe,
Blumen wand er sich zum Kranz,
Und er sah sie fortgerissen,
Treiben in der Wellen Tanz.
»Und so fliehen meine Tage
Wie die Quelle rastlos hin!
Und so bleichet meine Jugend,
Wie die Kränze schnell verblühn!
Fraget nicht, warum ich traure
In des Lebens Blütenzeit!
Alles freuet sich und hoffet,
Wenn der Frühling sich erneut.
Aber diese tausend Stimmen
Der erwachenden Natur
Wecken in dem tiefen Busen
Mir den schweren Kummer nur.
Was soll mir die Freude frommen,
Die der schöne Lenz mir beut?
Eine nur ists, die ich suche,
Sie ist nah und ewig weit.
Sehnend breit ich meine Arme
Nach dem teuren Schattenbild,
Ach, ich kann es nicht erreichen,
Und das Herz bleibt ungestillt!
Komm herab, du schöne Holde,
Und verlaß dein stolzes Schloß!
Blumen, die der Lenz geboren,
Streu ich dir in deinen Schoß.
Horch, der Hain erschallt von Liedern,
Und die Quelle rieselt klar!
Raum ist in der kleinsten Hütte
Für ein glücklich liebend Paar.«
Friedrich von Schiller (1759 - 1805), Johann Christoph Friedrich Schiller, ab 1802 von Schiller, deutscher Arzt, Dichter, Philosoph und Historiker; gilt als einer der bedeutendsten deutschsprachigen Dramatiker und Lyriker
Quelle: Schiller, F., Gedichte. Erstdruck 1803 unter dem Titel: Liebesklage
Der alte Pfarrer und der Beamte
Der Pfarrer:
Den alten christlichen Gebrauch,
Den Exorzismus, schafft nun auch
Man bei der Taufe ab! O tempora, o mores!
Der Beamte:
Wenn ihr nicht gern, ihr Herrn Pastores,
Ihn missen wollt, so führt ihn bei der Ehe ein!
Da wird er nötiger, als bei der Taufe sein.
Johann Conrad von Einem (1736 - 1799), deutscher Schriftsteller