15 Zitate und 7 Gedichte über Ahnung.
Rolands Horn
Der König Karl beim Jubelmahl,
hoch schwang in der Hand er den goldnen Pokal:
"Lang lebe der Sieger, der heut noch fern,
Roland, mein Roland, der Streiter des Herrn!"
Da – bei der Becher Zusammenstoß,
wie Schatten sich's über die Wände goß
und als das jauchzende Hoch verscholl,
ein Dämmern über die Erde schwoll,
und weit, weit her es traurig hallt'
hinklagend über See und Wald…
Und als sie drängten zur Tür mit Macht,
da wuchs das Dunkel zur finstern Nacht,
und angstvoll durch die Luft herbei
rang sich's wie wilder Todesschrei…
Und als sie sich wandten entsetzt zum Thron,
da stöhnte zum drittenmal her ein Ton,
da zittert' es über Wald und See
wie aus verröchelnder Brust ein Weh…
Doch als der König sich bleich erhob,
blaß wieder ein Dämmern die Halle durchwob.
Und als er rief: "Verrat! Zu Roß!"
Weiß wieder der Tag die Halle durchfloß.
Wohl jagten sie windschnell querfeldein,
rastlos bei Sonnen- und Sternenschein
hin bis zum Morgen nach Ronceval –
da kreischten die Krähen schon über dem Tal,
da lagen die Helden, die Wunden vorn,
und stumm er, Roland, zerborsten sein Horn.
Ferdinand Avenarius (1856 - 1923), Ferdinand Ernst Albert Avenarius, deutscher freier Schriftsteller und Herausgeber der Zeitschrift »Der Kunstwart« und »Dürerbund«, Stiefneffe Richard Wagners
Jetzt gehn die Lüfte manchesmal als trügen
sie unsichtbar ein Schweres welches schwankt.
Wir aber müssen uns mit dem begnügen
was sichtbar ist. So sehr es uns verlangt
hinauszugreifen über Tag und Dasein
in jenes Wehen voller Wiederkehr.
Wie kann ein Fernes so unendlich nah sein
und doch nicht näher kommen? Nicht bis her?
Das war schon einmal so. Nur damals war
es nicht ein zögerndes im Wind gelöstes
Vorfrühlingsglück. Vielleicht kann Allergrößtes
nicht näher bei uns sein, so wächst das Jahr.
So wächst die Seele, wenn die Jahreszeit
der Seele steigt. Das alles sind nicht wir.
Von Fernem hingerissen sind wir hier
und auferzogen und zerstört von weit.
Rainer Maria Rilke (1875 - 1926), eigentlich René Karl Wilhelm Johann Josef Maria Rilke, österreichischer Erzähler und Lyriker; gilt als einer der bedeutendsten Dichter der literarischen Moderne
Ich ahne im Flüstern und Weinen
Die Form von vergangenen Gesichtern,
Doch in musizierenden Lichtern
Will Morgen der Liebe erscheinen!
Und Seele und Herz wieder schwärmen
Ganz hellsichtig, hellhörig innen,
Der Sang aller Lichtviolinen
Steigt scheu durchs erwachende Lärmen.
Todeseinsamkeit, Liebeslust, Gaukel
Mit Stunden, bald alten, bald jungen,
Bang hin und froh her geschwungen!
O sterben, o, in dieser Schaukel!
Paul Verlaine (1844 - 1896), französischer Lyriker, hatte enge Verbindung zum Bohème-Milieu, vagabundierte mit A. Rimbaud 1871-73 durch Nordfrankreich, England und Belgien
Quelle: Verlaine, Parallèlemement, Erstdruck der Sammlung: Paris, L. Vanier 1889, übers. v. Wolf Graf v. Kalckreuth
Winternacht
Durch Wipfel, die, wie Schatten von Gedanken,
stumm und nebelhaft
am wasserhellen Himmel graun,
von Sternensaat
wie von demantner Prismen Strahlenbruch
durchblitzt, –
erahnen meine Sinne sich
hoch über winterlicher Erdennacht
ein ewiges Tagreich nächteloser Sonnen.
Christian Morgenstern (1871 - 1914), deutscher Schriftsteller, Dramaturg, Journalist und Übersetzer
Quelle: Morgenstern, C., Gedichte. Sprüche
Die Vermutung gleicht dunklen Wolken; sie können sich auflösen oder auch ein Gewitter verursachen.
© Otto Baumgartner-Amstad (1924 - 2022), Schweizer Beamter, Korrespondent des Nidwaldner Volksblattes und Volksbühnenautor
Der nur verdient geheimnisvolle Weihe,
Der ihr durch Ahnung vorzugreifen weiß.
Johann Wolfgang von Goethe (1749 - 1832), gilt als einer der bedeutendsten Repräsentanten deutschsprachiger Dichtung
Quelle: Goethe, Die natürliche Tochter, 1803. 3. Akt, 1. Auftritt, Weltgeistlicher
In der Welt Augen ist eine gemutmaßte Wahrheit beinahe so viel als Gewissheit.
Jean-Jacques Rousseau (1712 - 1778), Genfer Schriftsteller, Philosoph und Pädagoge; wichtiger Wegbereiter der Französischen Revolution
Quelle: Rousseau, Julie oder die neue Héloïse. Briefe zweier Liebender aus einer kleinen Stadt am Fuße der Alpen (Julie ou la Nouvelle Héloïse ou Lettres de deux amants, habitants d’une petite ville au pied des Alpes), entstanden 1756-58, Erstdruck 1761. Claire
Affekt! dein Ahnen bohrt zum Mittelpunkt;
Das machst du möglich, was unmöglich schien,
William Shakespeare (1564 - 1616), englischer Dichter, Dramatiker, Schauspieler und Theaterleiter
Quelle: Shakespeare, Das Wintermärchen (The Winter's Tale), 1609, Erstdruck 1623. 1. Aufzug, 1. Szene, Leontes
Ich ahne manches, das meine linke
Gehirnhälfte nicht wahrhaben will.
© Werner Hadulla (1926 - 2018), Journalist, Radio- und Fernsehautor
Quelle: Hadulla, Aphorismen: Ja, es gibt gute Menschen. Man muss uns nur entdecken, Edition Viva 2013
Wer saß nicht bang vor seines Herzens Vorhang?
Rainer Maria Rilke (1875 - 1926), eigentlich René Karl Wilhelm Johann Josef Maria Rilke, österreichischer Erzähler und Lyriker; gilt als einer der bedeutendsten Dichter der literarischen Moderne
Quelle: Rilke, Die Gedichte. Nach der von Ernst Zinn besorgten Edition der sämtlichen Werke, Insel Verlag 1957. Duineser Elegien, 1912/1922. Aus: die vierte Elegie