24 Gedichte über Schweigen.
Die Verschwiegenen
Ich habe wohl, es sei hier laut
vor aller Welt verkündigt,
gar vielen heimlich anvertraut,
was du an mir gesündigt.
Ich sagt’s dem ganzen Blumenheer,
dem Veilchen sagt’ ich’s stille,
der Rose laut, und lauter der
großäugigen Kamille.
Doch hat’s dabei noch keine Not,
bleib’ munter nur und heiter,
die es gewußt, sind alle tot,
und sagen’s nicht mehr weiter.
Hermann von Gilm, Ritter zu Rosenegg (1812 - 1864), Lyriker des österreichischen Vormärz und Dramatiker
Woher?
Vom Meer.
Wohin?
Zum Sinn.
Wozu?
Zur Ruh.
Warum?
Bin stumm.
Klabund (1890 - 1928), eigentlich Alfred Henschke, deutscher Schriftsteller, Übersetzer ostasiatischer Dichtkunst, Lyriker, Dramatiker und Komödienschreiber
Schweigen
Über den Wäldern schimmert bleich
Der Mond, der uns träumen macht,
Die Weide am dunklen Teich
Weint lautlos in die Nacht.
Ein Herz erlischt – und sacht
Die Nebel fluten und steigen –
Schweigen, Schweigen!
Georg Trakl (1887 - 1914), österreichischer frühexpressionistischer Dichter und Lyriker
Ich sprach
jeder schwieg
ich schrieb
jeder schwieg
ich schwieg
weil ich das Schweigen
nicht mehr ertrug -
sie sprachen
weil sie nicht schweigen konnten.
© Elmar Kupke und Hans-Christoph Neuert (*1942), (1958 - 2011), deutsche Aphoristiker und Lyriker
Quelle: Kupke/Neuert, Lyricon 1, 1985
Am Meer
Felsen leuchten
ihr Rot
sehnsüchtig
das Meer
erhört nicht
der Wind
streichelt
durch deine Haare
wir schweigen
mit dem Wasser
und sind froh
keine Felsen zu sein…
© Elmar Kupke und Hans-Christoph Neuert (*1942), (1958 - 2011), deutsche Aphoristiker und Lyriker
Quelle: Kupke/Neuert, Lyricon 1, 1985
Befehl zum Schweigen
Das Wort, es ward verboten mir,
von unsrer weisen Herrscherkaste -–
und das Schwert liegt friedlich hier,
ganz harmlos, als wäre es aus Plaste.
Es meuchelt stets nur in der Ferne,
kein Schrei erreicht hier unser Ohr –
zufrieden schau'n wir in die Sterne,
gaukeln uns die Freiheit vor.
Die Welt um uns, sie liegt in Scherben,
Immer enger wird der Kreis –
Wir dulden, dass die Menschen sterben –
Für unser Wohl ein hoher Preis.
Der König schläft den Schlaf des Beseelten,
Still ist es um ihn herum –
Denn als dem Schwert die Opfer fehlten,
Brachte es die "Freunde" um.
© Heiko Noack (*1972), Dichter
Schweigen –
reden –
zanken –
das Gemüt kommt ins Wanken.
Nicht zanken,
vernünftig reden –
manchmal schweigen –
das, Mensch, mach dir zu eigen!
© Karin Obendorfer (*1945), Dichterin und Lyrikerin
Freunde
man kann nicht mit jedem Menschen schweigen
die, mit denen man es kann
sind sehr wenige
und noch weniger sind die
die einen dabei auch verstehen
© Anke Maggauer-Kirsche (*1948), deutsche Lyrikerin, Aphoristikerin und ehemalige Betagtenbetreuerin in der Schweiz
Quelle: Maggauer, im: Franziskanerkalender 2005, hg. von den Schweizer Kapuzinern, Franziskanerkalender-Verlag, Olten
Aus dem Schweigen aufgetaucht,
stehen Worte im Raum
mal als Segen,
mal als Fluch,
mal einfach so dahingesagt...
und kehren ins Schweigen zurück.
Das Schweigen wird jedoch nie mehr dasselbe sein.
© Helga Schäferling (*1957), deutsche Sozialpädagogin
Es gibt so Leute, deren Angesicht
Sich überzieht gleich einem steh'nden Sumpf,
Und die ein eigensinnig Schweigen halten,
Aus Absicht sich in einen Schein zu kleiden
Von Weisheit, Würdigkeit und tiefem Sinn.
O mein' Antonia, ich kenne derer,
Die man deswegen bloß für Weise hält,
Wei sie nichts sagen: sprächen sie, sie brächten
Die Ohren, die sie hörten, in Verdammnis,
Weil sie die Brüder Narren schelten würden.
William Shakespeare (1564 - 1616), englischer Dichter, Dramatiker, Schauspieler und Theaterleiter
Quelle: Shakespeare, Der Kaufmann von Venedig (The Merchant of Venice), um 1596-1598, Erstdruck 1600, erste deutsche Übers. von Christoph Martin Wieland 1763. Hier übers. von August Wilhelm Schlegel, Johann Friedrich Unger, Berlin 1799