Häufig aufgerufene Gedichte der letzten 10 Tage
[Ich bin] ein Teil von jener Kraft,
Die stets das Böse will und stets das Gute schafft. ...
Ich bin der Geist, der stets verneint!
Und das mit Recht; denn alles, was entsteht,
Ist wert, daß es zugrunde geht;
Drum besser wär's, daß nichts entstünde.
So ist denn alles, was ihr Sünde,
Zerstörung, kurz das Böse nennt,
Mein eigentliches Element.
Johann Wolfgang von Goethe (1749 - 1832), gilt als einer der bedeutendsten Repräsentanten deutschsprachiger Dichtung
Quelle: Goethe, Faust. Der Tragödie erster Teil, 1808. Studierzimmer, Mephistopheles zu Faust
Möwenlied
Die Möwen sehen alle aus,
als ob sie Emma hießen.
Sie tragen einen weißen Flaus
und sind mit Schrot zu schießen.
Ich schieße keine Möwe tot,
Ich laß sie lieber leben -
und füttre sie mit Roggenbrot
und rötlichen Zibeben.
O Mensch, du wirst nie nebenbei
der Möwe Flug erreichen.
Wofern du Emma heißest, sei
zufrieden, ihr zu gleichen.
Christian Morgenstern (1871 - 1914), deutscher Schriftsteller, Dramaturg, Journalist und Übersetzer
Quelle: Morgenstern, C., Gedichte
Mondnacht
Es war, als hätt’ der Himmel
Die Erde still geküßt,
Daß sie im Blütenschimmer
Von ihm nun träumen müßt'.
Die Luft ging durch die Felder,
Die Ähren wogten sacht,
Es rauschten leis’ die Wälder,
So sternklar war die Nacht.
Und meine Seele spannte
Weit ihre Flügel aus,
Flog durch die stillen Lande,
Als flöge sie nach Haus.
Joseph von Eichendorff (1788 - 1857), Joseph Karl Benedikt Freiherr von Eichendorff, deutscher Dichter, Novellist und Dramatiker
Quelle: Eichendorff, J., Gedichte. Ausgabe 1841
Geistliche Gedichte: Mondnacht
Das Gewitter
Urahne, Großmutter, Mutter und Kind
In dumpfer Stube beisammen sind;
Es spielet das Kind, die Mutter sich schmückt,
Großmutter spinnet, Urahne gebückt
Sitzt hinter dem Ofen im Pfühl. –
Wie wehen die Lüfte so schwül!
Das Kind spricht: »Morgen ist Feiertag,
Wie will ich spielen im grünen Hag,
Wie will ich springen durch Tal und Höhn,
Wie will ich pflücken viel Blumen schön;
Dem Anger, dem bin ich hold!« –
Hört ihr’s, wie der Donner grollt?
Die Mutter spricht: »Morgen ist’s Feiertag,
Da halten wir alle fröhlich Gelag,
Ich selber, ich rüste mein Feierkleid;
Das Leben, es hat auch Lust nach Leid;
Dann scheint die Sonne wie Gold!« –
Hört ihr’s, wie der Donner grollt?
Großmutter spricht: »Morgen ist’s Feiertag,
Großmutter hat keinen Feiertag,
Sie kochet das Mal, sie spinnet das Kleid,
Das Leben ist Sorg und viel Arbeit;
Wohl dem, der tat, was er soll!« –
Hört ihr’s, wie der Donner grollt?
Urahne spricht: »Morgen ist’s Feiertag,
Am liebsten morgen ich sterben mag;
Ich kann nicht singen und scherzen mehr,
Ich kann nicht sorgen und schaffen schwer;
Was tu ich noch auf der Welt?« –
Seht ihr, wie der Blitz dort fällt?
Sie hören’s nicht, sie sehen’s nicht,
Es flammet die Stube wie lauter Licht:
Urahne, Großmutter, Mutter und Kind
Vom Strahl miteinander getroffen sind;
Vier Leben endet ein Schlag, –
Und morgen ist’s Feiertag.
Gustav Schwab (1792 - 1850), deutscher Philosoph und Theologe
Unser täglich Brot
Augenmaß und Handgewicht,
ist des Bäckers erste Pflicht.
Doch wär das Brot noch wie‘s mal war,
dann wäre alles wunderbar.
Doch leider wird nur weiß gebacken,
da ham‘ die Zähne nichts zu knacken.
Die Brötchen sind doch nur noch Pappe,
von Teiglingen vor- und aufgebacke‘.
Das Brot aus Industriemehl Mischungen,
find ich auch nicht individuell gelungen.
Landauf – Landab der gleiche Mischungsbrei,
den Groß-Filialen-Bäckern ist es einerlei.
Denken nicht an den Wohlgeschmack allein,
sondern billig, billig, muss alles sein.
© Horst Reiner Menzel (*1938), Aphoristiker
Beginn des Endes
Ein Punkt nur ist es, kaum ein Schmerz,
Nur ein Gefühl, empfunden eben;
Und dennoch spricht es stets darein,
Und dennoch stört es dich zu leben.
Wenn du es andern klagen willst,
so kannst du's nicht in Worte fassen.
Du sagst dir selber: »Es ist nichts!«
Und dennoch will es dich nicht lassen.
So seltsam fremd wird dir die Welt,
Und leis verläßt dich alles Hoffen,
Bis du es endlich, endlich weißt,
Daß dich des Todes Pfeil getroffen.
Theodor Storm (1817 - 1888), Hans Theodor Woldsen Storm, deutscher Jurist, Dichter und Novellist
Es weht der Wind ein Blatt vom Baum,
von vielen Blättern eines,
dies eine Blatt, man merkt es kaum,
denn eines ist ja keines.
Doch dieses Blatt allein,
war Teil von unserem Leben,
drum wird dies Blatt allein,
uns immer wieder fehlen.
Oft fälschlich Rilke, Hesse oder Goethe zugeschrieben
Es sandte mir das Schicksal tiefen Schlaf.
Ich bin nicht tot, ich tauschte nur die Räume.
Ich leb in euch, ich geh in eure Träume,
da uns, die wir vereint, Verwandlung traf.
Ihr glaubt mich tot, doch daß die Welt ich tröste,
leb ich mit tausend Seelen dort,
an diesem wunderbaren Ort,
im Herzen der Lieben. Nein, ich ging nicht fort,
Unsterblichkeit vom Tode mich erlöste.
Michelangelo (1475 - 1564), eigentlich Michelangelo di Lodovico Buonarroti Simoni; italienischer Bildhauer, Maler, Baumeister und Dichter
Schlußstück
Der Tod ist groß.
Wir sind die Seinen
lachenden Munds.
Wenn wir uns
mitten im Leben meinen,
wagt er zu weinen
mitten in uns.
Rainer Maria Rilke (1875 - 1926), eigentlich René Karl Wilhelm Johann Josef Maria Rilke, österreichischer Erzähler und Lyriker; gilt als einer der bedeutendsten Dichter der literarischen Moderne
Quelle: Rilke, Die Gedichte. Nach der von Ernst Zinn besorgten Edition der sämtlichen Werke, Insel Verlag 1957. Das Buch der Bilder, 1902, 1905
Liebeslied
Wie soll ich meine Seele halten, daß
sie nicht an deine rührt? Wie soll ich sie
hinheben über dich zu andern Dingen?
Ach gerne möcht ich sie bei irgendwas
Verlorenem im Dunkel unterbringen
an einer fremden stillen Stelle, die
nicht weiterschwingt, wenn deine Tiefen schwingen.
Doch alles, was uns anrührt, dich und mich,
nimmt uns zusammen wie ein Bogenstrich,
der aus zwei Saiten eine Stimme zieht.
Auf welches Instrument sind wir gespannt?
Und welcher Geiger hat uns in der Hand?
O süßes Lied.
Rainer Maria Rilke (1875 - 1926), eigentlich René Karl Wilhelm Johann Josef Maria Rilke, österreichischer Erzähler und Lyriker; gilt als einer der bedeutendsten Dichter der literarischen Moderne
Quelle: Rilke, Die Gedichte. Nach der von Ernst Zinn besorgten Edition der sämtlichen Werke, Insel Verlag 1957. Neue Gedichte, 1907